Aus Liebe zur Wahrheit und in dem Bestreben, diese zu ergründen, soll in Wittenberg
unter dem Vorsitz des ehrwürdigen Vaters Martin Luther, Magisters der freien Künste und der
heiligen Theologie sowie deren ordentlicher Professor daselbst, über die folgenden Sätze
disputiert werden. Deshalb bittet er die, die nicht anwesend sein und mündlich mit uns
debattieren können, dieses in Abwesenheit schriftlich zu tun. Im Namen unseres Herrn
Jesu Christi, Amen.
- Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: "Tut Buße" usw. (Matth. 4,17), hat
er gewollt, daß das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.
- Dieses Wort kann nicht von der Buße als Sakrament - d. h. von der Beichte und
Genugtuung -, die durch das priesterliche Amt verwaltet wird, verstanden werden.
- Es bezieht sich nicht nur auf eine innere Buße, ja eine solche wäre gar keine,
wenn sie nicht nach außen mancherlei Werke zur Abtötung des Fleisches bewirkte.
- Daher bleibt die Strafe, solange der Haß gegen sich selbst - das ist die wahre
Herzensbuße - bestehen bleibt, also bis zum Eingang ins Himmelreich.
- Der Papst will und kann keine Strafen erlassen, außer solchen, die er auf Grund seiner
eigenen Entscheidung oder der der kirchlichen Satzungen auferlegt hat.
- Der Papst kann eine Schuld nur dadurch erlassen, daß er sie als von Gott erlassen
erklärt und bezeugt, natürlich kann er sie in den ihm vorbehaltenen Fällen erlassen;
wollte man das geringachten, bliebe die Schuld ganz und gar bestehen.
- Gott erläßt überhaupt keinem die Schuld, ohne ihn zugleich demütig in
allem dem Priester, seinem Stellvertreter, zu unterwerfen.
- Die kirchlichen Bestimmungen über die Buße sind nur für die Lebenden
verbindlich, den Sterbenden darf demgemäß nichts auferlegt werden.
- Daher handelt der Heilige Geist, der durch den Papst wirkt, uns gegenüber gut, wenn
er in seinen Erlassen immer den Fall des Todes und der höchsten Not ausnimmt.
- Unwissend und schlecht handeln diejenigen Priester, die den Sterbenden kirchliche
Bußen für das Fegefeuer aufsparen.
- Die Meinung, daß eine kirchliche Bußstrafe in eine Fegefeuerstrafe umgewandelt
werden könne, ist ein Unkraut, das offenbar gesät worden ist, während die Bischöfe
schliefen.
- Früher wurden die kirchlichen Bußstrafen nicht nach, sondern vor der Absolution
auferlegt, gleichsam als Prüfstein für die Aufrichtigkeit der Reue.
- Die Sterbenden werden durch den Tod von allem gelöst, und für die kirchlichen
Satzungen sind sie schon tot, weil sie von Rechts wegen davon befreit sind.
- Ist die Haltung eines Sterbenden und die Liebe (Gott gegenüber) unvollkommen, so
bringt ihm das notwendig große Furcht, und diese ist um so größer, je geringer jene
ist.
- Diese Furcht und dieser Schrecken genügen für sich allein - um von anderem zu
schweigen -, die Pein des Fegefeuers auszumachen; denn sie kommen dem Grauen der Verzweiflung
ganz nahe.
- Es scheinen sich demnach Hölle, Fegefeuer und Himmel in der gleichen Weise zu
unterscheiden wie Verzweiflung, annähernde Verzweiflung und Sicherheit.
- Offenbar haben die Seelen im Fegefeuer die Mehrung der Liebe genauso nötig wie eine
Minderung des Grauens.
- Offenbar ist es auch weder durch Vernunft- noch Schriftgründe erwiesen, daß sie
sich außerhalb des Zustandes befinden, in dem sie Verdienste erwerben können oder in dem
die Liebe zunehmen kann.
- Offenbar ist auch dieses nicht erwiesen, daß sie - wenigstens nicht alle - ihrer
Seligkeit sicher und gewiß sind, wenngleich wir ihrer völlig sicher sind.
- Daher meint der Papst mit dem vollkommenen Erlaß aller Strafen nicht einfach den
Erlaß sämtlicher Strafen, sondern nur derjenigen, die er selbst auferlegt hat.
- Deshalb irren jene Ablaßprediger, die sagen, daß durch die Ablässe des Papstes
der Mensch von jeder Strafe frei und los werde.
- Vielmehr erläßt er den Seelen im Fegefeuer keine einzige Strafe, die sie nach
den kirchlichen Satzungen in diesem Leben hätten abbüßen müssen.
- Wenn überhaupt irgendwem irgendein Erlaß aller Strafen gewährt werden
kann, dann gewiß allein den Vollkommensten, das heißt aber, ganz wenigen.
- Deswegen wird zwangsläufig ein Großteil des Volkes durch jenes in Bausch und
Bogen und großsprecherisch gegebene Versprechen des Straferlasses getäuscht.
- Die gleiche Macht, die der Papst bezüglich des Fegefeuers im allgemeinen hat, besitzt
jeder Bischof und jeder Seelsorger in seinem Bistum bzw. seinem Pfarrbezirk im besonderen.
- Der Papst handelt sehr richtig, den Seelen (im Fegefeuer) die Vergebung nicht auf Grund
seiner - ihm dafür nicht zur Verfügung stehenden - Schlüsselgewalt, sondern auf dem Wege
der Fürbitte zuzuwenden.
- Menschenlehre verkündigen die, die sagen, daß die Seele (aus dem Fegefeuer)
emporfliege, sobald das Geld im Kasten klingt.
- Gewiß, sobald das Geld im Kasten klingt, können Gewinn und Habgier wachsen,
aber die Fürbitte der Kirche steht allein auf dem Willen Gottes.
- Wer weiß denn, ob alle Seelen im Fegefeuer losgekauft werden wollen, wie es
beispielsweise beim heiligen Severin und Paschalis nicht der Fall gewesen sein soll.
- Keiner ist der Echtheit seiner Reue gewiß, viel weniger, ob er völligen Erlaß
(der Sündenstrafe) erlangt hat.
- So selten einer in rechter Weise Buße tut, so selten kauft einer in der rechten
Weise Ablaß, nämlich außerordentlich selten.
- Wer glaubt, durch einen Ablaßbrief seines Heils gewiß sein zu können, wird auf
ewig mit seinen Lehrmeistern verdammt werden.
- Nicht genug kann man sich vor denen hüten, die den Ablaß des Papstes jene
unschätzbare Gabe Gottes nennen, durch die der Mensch mit Gott versöhnt werde.
- Jene Ablaßgnaden beziehen sich nämlich nur auf die von Menschen festgesetzten
Strafen der sakramentalen Genugtuung.
- Nicht christlich predigen die, die lehren, daß für die, die Seelen (aus dem
Fegefeuer) loskaufen oder Beichtbriefe erwerben, Reue nicht nötig sei.
- Jeder Christ, der wirklich bereut, hat Anspruch auf völligen Erlaß von Strafe
und Schuld, auch ohne Ablaßbrief.
- Jeder wahre Christ, sei er lebendig oder tot, hat Anteil an allen Gütern Christi und
der Kirche, von Gott ihm auch ohne Ablaßbrief gegeben.
- Doch dürfen der Erlaß und der Anteil (an den genannten Gütern), die der Papst
vermittelt, keineswegs geringgeachtet werden, weil sie - wie ich schon sagte - die
Erklärung der göttlichen Vergebung darstellen.
- Auch den gelehrtesten Theologen dürfte es sehr schwerfallen, vor dem Volk zugleich
die Fülle der Ablässe und die Aufrichtigkeit der Reue zu rühmen.
- Aufrichtige Reue begehrt und liebt die Strafe. Die Fülle der Ablässe aber macht
gleichgültig und lehrt sie hassen, wenigstens legt sie das nahe.
- Nur mit Vorsicht darf der apostolische Ablaß gepredigt werden, damit das Volk nicht
fälschlicherweise meint, er sei anderen guten Werken der Liebe vorzuziehen.
- Man soll die Christen lehren: Die Meinung des Papstes ist es nicht, daß der Erwerb
von Ablaß in irgendeiner Weise mit Werken der Barmherzigkeit zu vergleichen sei.
- Man soll den Christen lehren: Dem Armen zu geben oder dem Bedürftigen zu leihen ist
besser, als Ablaß zu kaufen.
- Denn durch ein Werk der Liebe wächst die Liebe und wird der Mensch besser, aber durch
Ablaß wird er nicht besser, sondern nur teilweise von der Strafe befreit.
- Man soll die Christen lehren: Wer einen Bedürftigen sieht, ihn übergeht und statt
dessen für den Ablaß gibt, kauft nicht den Ablaß des Papstes, sondern handelt sich den
Zorn Gottes ein.
- Man soll die Christen lehren: Die, die nicht im Überfluß leben, sollen das
Lebensnotwendige für ihr Hauswesen behalten und keinesfalls für den Ablaß verschwenden.
- Man soll die Christen lehren: Der Kauf von Ablaß ist eine freiwillige Angelegenheit,
nicht geboten.
- Man soll die Christen lehren: Der Papst hat bei der Erteilung von Ablaß ein für
ihn dargebrachtes Gebet nötiger und wünscht es deshalb auch mehr als zur Verfügung
gestelltes Geld.
- Man soll die Christen lehren: Der Ablaß des Papstes ist nützlich, wenn man
nicht sein Vertrauen darauf setzt, aber sehr schädlich, falls man darüber die Furcht
Gottes fahrenläßt.
- Man soll die Christen lehren: Wenn der Papst die Erpressungsmethoden der Ablaßprediger
wüßte, sähe er lieber die Peterskirche in Asche sinken, als daß sie mit Haut, Fleisch
und Knochen seiner Schafe erbaut würde.
- Man soll die Christen lehren: Der Papst wäre, wie es seine Pflicht ist, bereit - wenn
nötig -, die Peterskirche zu verkaufen, um von seinem Gelde einem großen Teil jener
zu geben, denen gewisse Ablaßprediger das Geld aus der Tasche holen.
- Auf Grund eines Ablaßbriefes das Heil zu erwarten ist eitel, auch wenn der
(Ablaß-)Kommissar, ja der Papst selbst ihre Seelen dafür verpfändeten.
- Die anordnen, daß um der Ablaßpredigt willen das Wort Gottes in den umliegenden
Kirchen völlig zum Schweigen komme, sind Feinde Christi und des Papstes.
- Dem Wort Gottes geschieht Unrecht, wenn in ein und derselben Predigt auf den Ablaß
die gleiche oder längere Zeit verwendet wird als für jenes.
- Die Meinung des Papstes ist unbedingt die: Wenn der Ablaß - als das Geringste - mit
einer Glocke, einer Prozession und einem Gottesdienst gefeiert wird, sollte das Evangelium -
als das Höchste - mit hundert Glocken, hundert Prozessionen und hundert Gottesdiensten
gepredigt werden.
- Der Schatz der Kirche, aus dem der Papst den Ablaß austeilt, ist bei dem Volke
Christi weder genügend genannt noch bekannt.
- Offenbar besteht er nicht in zeitlichen Gütern, denn die würden viele von den
Predigern nicht so leicht mit vollen Händen austeilen, sondern bloß sammeln.
- Er besteht aber auch nicht aus den Verdiensten Christi und der Heiligen, weil diese
dauernd ohne den Papst Gnade für den inwendigen Menschen sowie Kreuz, Tod und Hölle
für den äußeren bewirken.
- Der heilige Laurentius hat gesagt, daß der Schatz der Kirche ihre Armen seien, aber
die Verwendung dieses Begriffes entsprach der Auffassung seiner Zeit.
- Wohlbegründet sagen wird, daß die Schlüssel der Kirche - die ihr durch das
Verdienst Christi geschenkt sind - jenen Schatz darstellen.
- Selbstverständlich genügt die Gewalt des Papstes allein zum Erlaß von
Strafen und zur Vergebung in besondern, ihm vorbehaltenen Fällen.
- Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und
Gnade Gottes.
- Dieser ist zu Recht allgemein verhaßt, weil er aus Ersten Letzte macht.
- Der Schatz des Ablasses jedoch ist zu Recht außerordentlich beliebt, weil er aus
Letzten Erste macht.
- Also ist der Schatz des Evangeliums das Netz, mit dem man einst die Besitzer von Reichtum
fing.
- Der Schatz des Ablasses ist das Netz, mit dem man jetzt den Reichtum von Besitzenden
fängt.
- Der Ablaß, den die Ablaßprediger lautstark als außerordentliche Gnaden anpreisen,
kann tatsächlich dafür gelten, was das gute Geschäft anbelangt.
- Doch sind sie, verglichen mit der Gnade Gottes und der Verehrung des Kreuzes, in der Tat
ganz geringfügig.
- Die Bischöfe und Pfarrer sind gehalten, die Kommissare des apostolischen Ablasses mit
aller Ehrerbietung zuzulassen.
- Aber noch mehr sind sie gehalten, Augen und Ohren anzustrengen, daß jene nicht
anstelle des päpstlichen Auftrags ihre eigenen Phantastereien predigen.
- Wer gegen die Wahrheit des apostolischen Ablasses spricht, der sei verworfen und
verflucht.
- Aber wer gegen die Zügellosigkeit und Frechheit der Worte der Ablaßprediger
auftritt, der sei gesegnet.
- Wie der Papst zu Recht seinen Bannstrahl gegen diejenigen schleudert, die hinsichtlich des
Ablaßgeschäftes auf mannigfache Weise Betrug ersinnen,
- So will er viel mehr den Bannstrahl gegen diejenigen schleudern, die unter dem Vorwand des
Ablasses auf Betrug hinsichtlich der heiligen Liebe und Wahrheit sinnen.
- Es ist irrsinnig zu meinen, daß der päpstliche Ablaß mächtig genug sei, einen
Menschen loszusprechen, auch wenn er - was ja unmöglich ist - der Gottesgebärerin Gewalt
angetan hätte.
- Wir behaupten dagegen, daß der päpstliche Ablaß auch nicht die geringste
läßliche Sünde wegnehmen kann, was deren Schuld betrifft.
- Wenn es heißt, auch der heilige Petrus könnte, wenn er jetzt Papst wäre,
keine größeren Gnaden austeilen, so ist das eine Lästerung des heiligen Petrus und des
Papstes.
- Wir behaupten dagegen, daß dieser wie jeder beliebige Papst größere hat,
nämlich das Evangelium, "Geisteskräfte und Gaben, gesund zu machen" usw., wie es
1. Kor. 12 heißt.
- Es ist Gotteslästerung zu sagen, daß das (in den Kirchen) an hervorragender
Stelle errichtete (Ablaß-) Kreuz, das mit dem päpstlichen Wappen versehen ist, dem Kreuz
Christi gleichkäme.
- Bischöfe, Pfarrer und Theologen, die dulden, daß man dem Volk solche Predigt
bietet, werden dafür Rechenschaft ablegen müssen.
- Diese freche Ablaßpredigt macht es auch gelehrten Männern nicht leicht, das
Ansehen des Papstes vor böswilliger Kritik oder sogar vor spitzfindigen Fragen der Laien
zu schützen.
- Zum Beispiel: Warum räumt der Papst nicht das Fegefeuer aus um der heiligsten Liebe
und höchsten Not der Seelen willen - als aus einem wirklich triftigen Grund -, da er doch
unzählige Seelen loskauft um des unheilvollen Geldes zum Bau einer Kirche willen - als aus
einem sehr fadenscheinigen Grund -?
- Oder: Warum bleiben die Totenmessen sowie Jahrfeiern für die Verstorbenen bestehen,
und warum gibt er (der Papst) nicht die Stiftungen, die dafür gemacht worden sind, zurück oder
gestattet ihre Rückgabe,wenn es schon ein Unrecht ist, für die Losgekauften zu beten?
- Oder: Was ist das für eine neue Frömmigkeit vor Gott und dem Papst, daß
sie einem Gottlosen und Feinde erlauben, für sein Geld eine fromme und von Gott geliebte
Seele loszukaufen; doch um der eigenen Not dieser frommen und geliebten Seele willen erlösen
sie diese nicht aus freigeschenkter Liebe?
- Oder: Warum werden die kirchlichen Bußsatzungen, die "tatsächlich und durch
Nichtgebrauch" an sich längst abgeschafft und tot sind, doch noch immer durch die Gewährung
von Ablaß mit Geld abgelöst, als wären sie höchst lebendig?
- Oder: Warum baut der Papst, der heute reicher ist als der reichste Crassus, nicht
wenigstens die eine Kirche St. Peter lieber von seinem eigenen Geld als dem der armen
Gläubigen?
- Oder: Was erläßt der Papst oder woran gibt er denen Anteil, die durch
vollkommene Reue ein Anrecht haben auf völligen Erlaß und völlige Teilhabe?
- Oder: Was könnte der Kirche Besseres geschehen, als wenn der Papst, wie er es (jetzt)
einmal tut, hundertmal am Tage jedem Gläubigen diesen Erlaß und diese Teilhabe
zukommen ließe?
- Wieso sucht der Papst durch den Ablaß das Heil der Seelen mehr als das Geld; warum
hebt er früher gewährte Briefe und Ablässe jetzt auf, die doch ebenso wirksam
sind?
- Diese äußerst peinlichen Einwände der Laien nur mit Gewalt zu unterdrücken
und nicht durch vernünftige Gegenargumente zu beseitigen heißt, die Kirche und den Papst dem
Gelächter der Feinde auszusetzen und die Christenheit unglücklich zu machen.
- Wenn daher der Ablaß dem Geiste und der Auffassung des Papstes gemäß gepredigt
würde, lösten sich diese (Einwände) alle ohne weiteres auf, ja es gäbe sie überhaupt
nicht.
- Darum weg mit allen jenen Propheten, die den Christen predigen: "Friede, Friede", und ist
doch kein Friede.
- Wohl möge es gehen allen den Propheten, die den Christen predigen: "Kreuz, Kreuz",
und ist doch kein Kreuz.
- Man soll die Christen ermutigen, daß sie ihrem Haupt Christus durch Strafen, Tod und
Hölle nachzufolgen trachten
- und daß die lieber darauf trauen, durch viele Trübsale ins Himmelreich
einzugehen, als sich in falscher geistlicher Sicherheit zu beruhigen.
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